Ana Lilia Pérez (36) ist Journalistin und Buchautorin. Ihre Artikel sind in zahlreichen mexikanischen Publikationen erschienen, zudem ist sie als Radio- und Fernsehkommentatorin für mehrere Sendeanstalten tätig. Zu ihren wichtigsten Arbeiten zählen zwei Bücher, die sich mit den korrupten Strukturen im staatlichen Erdölunternehmen Petróleos Méxicanos (Pemex) beschäftigen und die Rolle der Mafia in diesem Betrieb beleuchten: „Camisas Azules, Manos Negras“ (Grijalbo, Random House Mondari, 2010) und „El Cartel Negro: Cómo el crimen organizado se ha apoderado de Pemex“ (Random House Mondari, 2011).
Aufgrund ihrer journalistischen Tätigkeiten erhielt sie Drohungen und verließ mit Hilfe eines Stipendiums der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte im Juni 2011 ihr Land. Nun verbringt sie ein Jahr in Deutschland. Ana Lilia Pérez hat zahlreiche Auszeichnungen bekommen, darunter Preise des UN-Kinderhilfswerkes UNICEF sowie des UN-Entwicklungsprogramms PNUD. Im Oktober wurde sie mit dem Medienpreis der Stadt Leipzig ausgezeichnet. Sie nahm an der von der Heinrich-Böll-Stiftung und der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko ausgerichteten Mexiko-Tagung vom 30. 11. bis 2.12. 2012 teil.
Auf den Podien der Mexiko-Tagung bezeichneten gleich mehrere Diskutanten die Regierung ihres Landes als kriminell. Teilen Sie diese Meinung?
Gemäß unserer Verfassung muss der Präsident die Sicherheit garantieren und dafür sorgen, dass die Regierbarkeit des Landes gewährleistet ist. Beides ist in Mexiko nicht der Fall. Im Gegenteil: Die organisierte Kriminalität hat die Regierungen auf föderaler und bundesstaatlicher Ebene infiltriert, viele derer Vertreter sind direkt in Verbrechen involviert. Zudem hat die Mafia zahlreiche Abgeordnete und die Justiz im Griff. Die Institutionen des Staates sind also zumindest an der Kriminalität beteiligt. Wir müssen davon ausgehen, dass es praktisch keinen staatlichen Bereich gibt, der nicht unterwandert ist. Einige Regionen befinden sich im Ausnahmezustand, weil kein Regieren mehr möglich ist. Kriminelle oder paramilitärische Gruppen üben dort die Macht aus, manche Dörfer wurden komplett von den Kartellen übernommen.
Haben Sie dafür aktuelle Beispiele?
Derzeit müssen sich ehemalige Gouverneure einiger Bundesstaaten in den USA vor Gericht verantworten, weil sie Geld von der Mafia erhalten haben. Sie kassierten Schmiergelder und ließen die Kartelle dafür in den Regionen operieren. Auf lokaler Ebene wissen wir sogar von Fällen, wo Politiker in flagranti gemeinsam mit Mitgliedern der Kartelle erwischt wurden. Jüngst wurde ein Bürgermeister aufgegriffen, der mit einer schwer bewaffneten Gruppe der Mafiaorganisation Zetas unterwegs war. Und ich selbst habe enthüllt, dass hochrangige Funktionäre aus den Regierungen von Präsident Vicente Fox und Felipe Calderón in Geschäfte mit der Mafia verwickelt waren.
Sie gehen davon aus, dass selbst die föderale Regierung korrupt ist?
Jedenfalls profitierte die Familie Fox von der Korruption im staatlichen Erdölunternehmen Pemex. Die Kinder des Politikers der konservativen Partei der Nationalen Aktion, der PAN, kassierten für jeden ausgehandelten Vertrag der Firma zehn Prozent Provision. Da handelte es sich meistens um Offshore-Vereinbarungen in der Größenordnung von jeweils 200 Millionen US-Dollar. Pemex ist immerhin das wichtigste Unternehmen Mexikos. Was die Einnahmen betrifft, steht es weltweit auf Platz 11. Doch die Verantwortlichen blieben straflos, und ebenso alle anderen, die an den korrupten Geschäften verdient haben: Unternehmer, andere Politiker usw. Auch Fox` Parteifreund Calderón hatte schon vor seiner Präsidentschaft großen Einfluss auf den Staatsbetrieb, schließlich war er vor 2006 Energieminister. Manager internationaler Firmen berichteten mir, dass Geschäfte mit Pemex bis heute kaum möglich sind, wenn kein Schmiergeld fließt.
Welche Rolle spielen die Kartelle im Fall Pemex?
Meine Recherchen haben ergeben, dass das Unternehmen zu einer bedeutenden Einnahmequelle der organisierten Kriminalität geworden ist. Seit Ende 2006 stehlen das Golf-Kartell und die Zetas in großem Stil Erdöl, mit der Zeit haben sich auch die anderen großen Mafia-Organisationen in das illegale Geschäft eingebracht. So etwas ist nur möglich, wenn man über enge Verbindungen zum Unternehmen verfügt. Das Öl wird dann in den USA und anderen Regionen verkauft. Die Kartelle haben selbst Betriebe gegründet, die im Auftrag von Pemex arbeiten. Zum Beispiel Tankstellen. Dort waschen sie ihre Gelder und zugleich nutzen sie die Unternehmen, um Schutzgeld einzutreiben. Diese Tankstellen darf aber nur die föderale Regierung genehmigen. Mit anderen Worten: die Regierung Calderón hat für diese Geschäfte gebürgt. Betroffen waren aber nicht nur mexikanische Privatunternehmen und einfache Bürger. Ich habe auch Fälle großer internationaler Konzerne dokumentiert, die eine Mafiasteuer bezahlen mussten.
Die PAN war mit Fox im Jahr 2000 angetreten, um nach 71 Jahren Regierungszeit der Partei der Institutionellen Revolution, der PRI, Schluss zu machen mit den korrupten Strukturen. Nach Ihren Schilderungen ist das Gegenteil passiert.
Die PRI hatte damals tatsächlich abgewirtschaftet. Sie stand auch für die Korruption in anderen Bereichen, etwa der Telekommunikation, bei staatlichen Stromversorgern und bei den PRI-nahen Gewerkschaften. Deshalb kam die PAN an die Macht. Doch es stellte sich heraus, dass die konservative Partei nicht fähig war, die an sie gestellten Anforderungen umzusetzen. Und nicht nur das. Wie der Pemex-Fall zeigt, machten sie sich die korrupten Strukturen selbst zu eigen.
Die Enttäuschung der Bevölkerung drückte sich unter anderem darin aus, dass die PAN nun abgewählt und seit 1. Dezember wieder ein PRI-Politiker Präsident ist. Erhoffen Sie sich bessere Zeiten durch Enrique Peña Nieto?
Er hat zwar gesagt, dass er nicht für die alte PRI stehe, aber viele seiner Politiker stammen aus der alten Riege. Ich befürchte, seine Präsidentschaft wird die korrupten Strukturen der Partei wieder stärken. Aber auch mit Blick auf das Parlament bin ich skeptisch. So sitzt mit dem Gewerkschafter Carlos Romero Deschamps ein PRI-Mann im Senat, der eine zentrale Rolle in der Pemexgate-Affäre spielt. Damals wurden Millionengelder des Unternehmens in die Wahlkampfkasse des PRI-Präsidentschaftskandidaten umgeleitet, und Deschamps war dafür verantwortlich.
Sie haben Ihre Heimat vorübergehend verlassen, weil Sie bedroht worden sind. Wer steckte hinter diesen Drohungen?
Die Regierung und Unternehmen, die mit der Mafia zusammen arbeiten. Meine Recherchen hatten eine sehr große Wirkung, nicht zuletzt, weil der Energiesektor ein heikler Bereich ist und es um hochrangige Vertreter der Regierungen Fox und Calderón ging.
Dennoch werden Sie nach Mexiko zurückkehren?
Ja, denn ich fühle mich mit meinem Land sehr verbunden. Meine Arbeit hatte einen wichtigen Effekt. Ich habe schwerwiegende Korruptionsfälle bei Pemex aufgedeckt, die die Regierung verheimlichen wollte. Die von mir veröffentlichten Informationen haben deutlich gemacht, wie weit die Regierung selbst in den Sumpf verstrickt ist. In der mexikanischen Gesellschaft ist man aufmerksamer, wenn es um das wichtigste Unternehmen des Landes geht. Das hat Menschen motiviert, von der Regierung und den Abgeordneten zu fordern, dass sie Rechenschaft ablegen.
Mexikos Bürgerinnen und Bürger empfinden keine Affinität zu Politikern. Kaum jemand ist der Meinung, dass sie großen Respekt verdienen. Ich denke, hier müssen wir eine neue Beziehung zwischen Regierung und Bevölkerung herstellen. Es gilt, gemeinsam Lösungen für die schwerwiegenden Probleme zu suchen, mit denen das Land heute konfrontiert ist. Und genau da ist die Arbeit von Journalisten wichtig.
Doch das Gewaltniveau gegen Pressevertreter und Medien ist so angestiegen, dass viele beschlossen haben, zu schweigen. Sie haben sich für eine Selbstzensur entschieden, weil es die einzige Form ist, sich zu schützen. Ich respektiere diese Entscheidung. Es ist nicht einfach, mit dem Tode bedroht zu werden und einfach weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Das darf man von niemandem verlangen. Auch ich habe Drohungen erhalten, musste mit Personenschutz und anderen Sicherheitsmaßnahmen leben. Trotzdem weigere ich mich, meine Arbeit ruhen zu lassen. Ich lasse mich nicht knebeln. Denn unser Einsatz ist notwendig, wenn wir einen Wandel der mexikanischen Gesellschaft wollen.
Das Interview wurde geführt von Wolf Dieter Vogel, freier Journalist und Publizist. Mehr als sechs Jahre lang berichtete er für Printmedien und Hörfunk aus Mexiko und arbeitete dort mit freien Radios und Menschenrechtsorganisationen zusammen.